
Musik als Hintergrundrauschen
Musik erfüllt heute mehr denn je eine soziale Funktion. Die Leidenschaft für Genres geht verloren.
Bis in die 1990er Jahre war Musik eine Geschichte der Abgrenzung mit einem jeweils wichtigen historischen Kontext. Abgrenzung zu anderen Hautfarben, zu anderen sozialen Gruppen, zu anderen Lebenseinstellungen oder zu den Eltern.
Hip-Hop hatte seinen Ursprung 1973 in der New Yorker Bronx, als Kool Herc auf spontanen Partys in stillgelegten Fabriken auflegte. Mit zwei Plattenspielern und einer neuen Technik, die aus zwei Platten ohne erkennbare Titel einen Mix erzeugte, wetterte er mit Sprechgesang und einem entsprechenden Inhalt gegen die Unterdrückung und Ausgrenzung von vorwiegend schwarzen Minderheiten. In den Jahrzehnten davor war schon Soul und R&B eine fast rein schwarze Musik mit entsprechender Zielgruppe.
Punk war – abgesehen von der Marketing Boy Band Sex Pistols – Mitte der 1970er Jahre in England die Totalverweigerung gegen alles, was es vorher gab. Also vor allem ein soziokulturelles Phänomen.
Auch elektronische Musik war Anfang der 80er ein Zeichen der Zugehörigkeit zu etwas komplett Neuem. Zu einer progressiven Musik, die die Eltern definitiv nicht verstanden. Und nicht zuletzt durch die optische Inszenierung von Kraftwerk und den diversen Synth-Pop Erben hatte diese Musik eine sehr elitäre Upperclass Attitüde.
Grundsätzlich kann man sagen, dass Musik in seinen verschiedenen Ausprägungen immer einer Subkultur entstanden ist, die in einem sozialen Kontext begründet war. Dementsprechend stammte die Zuhörerschaft auch meistens selbst aus diesem Umfeld.
Durch die Tatsache, dass seit zwei Jahrzehnten übergreifend fast ausschließlich mit Musikzitaten jeglicher Herkunft gearbeitet wird, verschwimmen die ursprünglichen Intentionen und
historischen Zusammenhänge der Genres fast vollständig. Wer Musik verstehen will, muss zwangsläufig deren Entstehungsgeschichte kennen. Da das heute so gut wie unmöglich ist, geht es auch nicht mehr um das Verstehen, sondern in der Regel nur noch um den Konsum.
So schön und wichtig es auch ist, dass Musik durch die Eigenschaft einer weltweit verstandenen Einheitssprache als geografische Grenzen überwindende Völkerverständigung fungiert (wie zum Beispiel bei Live Aid), so wird Musik seit Langem immer mehr zum Hintergrundrauschen, zur permanenten, allgemeinen Ablenkung von den alltäglichen Realitäten. Früher nannte man das Muzak, also zum Beispiel Musik, die in Aufzügen lief. Es war zwar immer schon so, dass große Teile der Gesellschaft sich flächendeckend an den kommerziellen Top 10 und den Bravo Hits orientierten, aber heutzutage sind Musikliebhaber, die sich einem speziellen Musikgenre verschrieben haben, oder zumindest Musikstile fein voneinander unterscheiden können, echte Exoten.
Da es nahe liegt, durch die Teilen- und Like-Funktionen der sozialen, digitalen Kanäle seine musikalischen Vorlieben für alle zu veröffentlichen, oder der einfache Download ganzer Musikdatenbanken im Sinne von Quantität statt Qualität, möglich ist, geht die Suche nach dem wirklich eigenen Musikgeschmack immer mehr verloren. Musik ist zu einer Inflation geworden. In der eigenen Mediathek, im Radio, beim Eurovision Song Contest. Der DJ hat mittlerweile Angst vor der Zielgruppe, die ihm das Smartphone mit der YouTube Seite des Musikwunsches vor die Nase hält.
Wohl nie gab es einen Mainstream, der sich dadurch kennzeichnete, dass alle Teilnehmer glauben, trotzdem einen individuellen Geschmack zu haben. Um nicht Außenseiter zu sein, hört man das, was andere hören. Musik ist also kaum noch Leidenschaft, kaum noch inhaltliche Identifikation, gefällt im Zweifel sogar gar nicht wirklich. Sie erfüllt nur einen sozialen Zweck.
Fotos: Vox Discotape Unit 1971