
MUSS MAN DAS KENNEN?
Der Zeitgeist öffnet künstlicher Intelligenz Tür und Tor
Fast jeder DJ hat, zumindest virtuell, eine Liste mit den aus seiner Sicht merkwürdigsten Ansagen der Gäste am im Kopf. Ein Großteil davon sind natürlich Musikwünsche, die in mehrfacher Hinsicht Kopfschütteln auslösen. Kürzlich wurde mir jedoch bewusst, dass ich gerade die Nummer eins gehört hatte. Und das nach mehreren Jahrzehnten in diesem Job. Diesen kurzen Dialog und seine mögliche Interpretation zum aktuellen Stand der Clubkultur möchte ich den Lesern nicht vorenthalten. Sie (ca. 25 Jahre alt mit Freundin):
„Muss man das kennen, was du da spielst?“
Ich: „Nein, nicht unbedingt.“
Sie: „Warum spielst du es dann?“
Dieser bemerkenswerte Moment ereignete sich mitten in der Nacht in einem Club, in dem wir (The Disco Boys) ein für uns typisches, aktuelles Melodic-Tech-House-Set spielten. Die Tanzfläche war voll und die Musik nicht erklärungsbedürftig. Sicherlich ist der obige Dialog nicht repräsentativ, kam aber in den letzten Jahren häufiger vor. Insbesondere die selbstbewusste Art der Fragestellung, die keinen Zweifel daran ließ, dass es sich aus Sicht der Fragestellerin um eine sehr berechtigte Bemerkung handelte und sie damit wohl die Mehrheit der Gäste repräsentierte, wirft häufiger die Frage auf, was da nicht mehr zusammenpasst.
Zunächst eröffnet sich ein interessanter Einblick in das vermeintliche Berufsbild des DJs, gefolgt von der Frage nach dem Grund des Clubbesuchs und den damit verbundenen Erwartungen. Eine Diskussion zu diesem Thema führt meist nur zu der Erkenntnis, dass entweder der Gast oder man selbst offensichtlich am falschen Ort ist.
Bei genauerer Betrachtung stellt sich die Frage, wer welche Musik kennt und warum. Um aus Sicht der Fragenden Harmonie auf der Tanzfläche zu erzeugen, müssten also alle genau die gleiche Musik kennen. Und wenn dem nicht so ist, was ist dann, wenn alle minütlich am DJ-Pult die gleiche Frage stellen?
Die Clubkultur funktionierte, weil eins die Gemeinschaft auf der Tanzfläche einte: zur Musik von morgen tanzen und dafür einem DJ als Master of Ceremony vertrauen. Gute DJs haben sich so mit ihren Sets einen Namen gemacht. Doch offenbar verlassen sich immer mehr Gäste nur noch auf ihre eigene Spotify- und YouTube-Liste und halten sich selbst für den besseren DJ. Doch wie kommen die Inhalte in die Playlists und in die Köpfe der Menschen? Das ist sicher kein vermeintlich kreativer Prozess, sondern unbewusst das Ergebnis von Algorithmen und der Musikindustrie. Also genau das Gegenteil von dem, was DJs wollen. Da aber auch hier jeder einen anderen Geschmack hat, kann der größte gemeinsame Nenner dann nur noch die Top Ten sein, womit wir wieder in den 70er Jahren wären, wo der DJ als reiner Dienstleister fungierte.
Wenn das der Zeitgeist ist, dann liegt es auf der Hand, welcher Job am ehesten durch KI ersetzt werden kann. Software und Start-Ups gibt es dafür genug, und bei Hochzeiten und Firmenevents kann man damit viel Geld sparen.
Eine kleine Anekdote zum Schluss: Die eingangs erwähnte Kritikerin kannte uns sicher nicht, tanzte aber mit ihren Freundinnen euphorisch zu “For You”, denn das kannte sie.
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