Disc-Jockeys durchdigitalisiert

80 Schallplatten oder 6.000 MP3 Files?
Wie kommt eigentlich welche Musik ins DJ-Set?


Als die DJ-Welt noch nicht digital war, musste man sich noch zum stationären Vinyl-Händler seines Vertrauens bemühen. Die Qualität der Auswahl war maßgeblich von der Professionalität und Leidenschaft des Dealers bestimmt. Er war die Schlüsselfigur. Hatte der den neuesten Scheiß, und die eigenen Beziehungen zu ihm waren entsprechend gut, bekam man auch mal eine von 3 Whitelabels. Bestenfalls stand die dann auch schon im personalisierten DJ-Fach, welches manche je nach Reputation, Umsatz und Häufigkeit des Besuchs dort hatten. Das waren 12-Inches, die oft erst Wochen später regulär zu bekommen waren.

 

Genau diese Exklusivität zeichnete gute DJ-Sets aus. Für den Rest der Scheiben wühlte man sich durch den Stapel der Neuerscheinungen. Wundersamer Weise gab es in den verschiedenen DJ-Stores auch oft komplett unterschiedliche Platten. Im Zweifel machte man sich die Mühe, in mehrere Läden in diverse Städte oder sogar Länder zu pilgern. Top DJs wurden zusätzlich von den coolen Labels mit Vinyl bemustert, aber niemand hat sich für sein Set auf diese Bemusterung beschränkt.

 

Ein Qualitätsfilter für die Musik auf dem schwarzen Gold war alleine schon der Kostenfaktor vom Produzieren über den Vertrieb bis zum Plattenregal. Herstellung und Vertrieb waren so kostspielig, dass den Weg zum Ziel in der Regel eher nur halbwegs erfolgversprechende Platten schafften. Und das ist auch schon der entscheidende Unterschied zur heutigen Musikbeschaffung. Nicht nur dass praktisch jeder mit erschwinglichen Programmen zuhause „Musik“ produzieren kann, im do-it-yourself Verfahren ist auch die digitale Verbreitung leicht zu organisieren. Und so bekommt der DJ heute täglich 100 Bemusterungen in seine Inbox, davon 99% Schrott. Egal, kostet ja nix, und um von Labels digital bemustert zu werden, sind oft nur ein paar Klicks nötig. Die Beschäftigung mit dieser Masse an Titeln ist so zeitintensiv, dass man es auch aus Bequemlichkeit und Geiz verlernt, selbst auf die Suche zu gehen, sondern sich mehr und mehr durch digitale Mechaniken konditionieren lässt. Abgesehen davon tritt auch ein gewisser Gewöhnungseffekt für minderwertige Musik ein, wodurch man die guten Titel kaum noch erkennt.

Das heute der Gast selbst schon mit einer Playlist auf dem Smartphone-Display zum DJ kommt, liegt unter anderem daran, dass im digitalen Zeitalter die Zugänglichkeit für Clubmusik auch für Konsumenten denkbar einfach geworden ist. Den exklusiven und ziemlich umständlichen Weg der Musikrecherche, die früher dem professionellen DJ vorbehalten war, gibt es nicht mehr. Jedermann kann sämtliche aktuelle DJ Top 10 auf den einschlägigen Portalen anhören, kaufen, oder sogar kostenlos runterladen. Und selbst wenn man die Tracks legal kauft, kosten diese heutzutage maximal zwei Euro, anstatt der für Importe damals fälligen DM 29,- pro Platte. Im Gegensatz zu früher ein ziemlich erschwingliches Hobby.

 

Ein weiterer vermeintlicher Vorteil schmälert die Qualität der DJ-Sets eher als dass es sie inhaltlich besser macht. Nämlich die unüberschaubare Masse der dann am Abend zur Verfügung stehenden Titel auf USB-Stick oder Laptop. Konnte man früher maximal 80-100 Maxi-Singles im Koffer transportieren, und musste sich somit auf die Essenz fürs Set einschränken, hat man nun quasi seine gesamte Musiksammlung dabei - tausende von MP3-Dateien. Diese Inflation führt oft dazu, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht und sich durch permanentes Suchen auf ein gutes Set kaum noch konzentrieren kann. Für Geburtstage oder Hochzeiten mag dieses Potpourri eine Bereicherung sein, aber wenn sich ein DJ darüber definiert, den Gästen neue Sounds zu präsentieren, müsste es reichen, maximal die 200 besten Tracks auf dem Stick oder Laptop mitzunehmen.

 

DJs aus dem Vinyl-Zeitalter taten sich im Übrigen beim Wechsel vom Koffer zum Bildschirm auch damit schwer, ihre Top-Titel nicht mehr am Cover oder Labeletikett zu erkennen, sondern diese beim Scrollen durch hunderte von Listen wiederzufinden.

 

Die Kunst ist Qualität nicht mit Quantität zu verwechseln – wie in fast allen Bereichen, wo das Digitale das Analoge ersetzt hat.